Offener Brief Landesaufnahmeprogramm

Sehr geehrter Ministerpräsident, lieber Stephan Weil,

die humanitäre Situation für Menschen, die vor Krieg und Vertreibung geflohen sind, spitzt sich jeden Tag zu. Mit großer Sorge sehen wir die humanitäre Katastrophe in der Region Idlib, an den türkisch-syrischen und türkisch-griechischen Grenzen und auf den griechischen Inseln. Die Situation der Menschen in den sogenannten europäischen Hotspots auf den griechischen Inseln ist schon seit langem katastrophal und menschenunwürdig. Die Berichte der Abgeordneten und Bürgermeister*innen, der medizinischen Kräfte und Menschenrechtsorganisationen, die vor Ort waren, sind erschütternd und beschämend. Jetzt nimmt die Situation durch die Eskalation des türkischen Präsidenten Erdogan sowie die Reaktion der Europäischen Union und der griechischen Behörden mit dem Bruch europäischen Rechts, der Aussetzung des Asylrechts und völkerrechtswidrigen Pushbacks täglich dramatischere Ausmaße an. Rechtsextreme Gruppierungen, auch aus Deutschland, bedrohen und attackieren Journalist*innen, NGOs, Abgeordnete und Geflüchtete, während Sicherheitsbehörden untätig bleiben. Wir dürfen nicht länger tatenlos zusehen. Wir müssen zuallererst die besonders Schutzbedürftigen und unbegleiteten Minderjährigen evakuieren, und zwar schnell. Je länger wir warten, desto größer ist die Gefahr, dass dort Menschen sterben.

Sie, Herr Ministerpräsident, haben zuletzt zu Recht mehrfach darauf hingewiesen, dass Kontingente helfen können. Wir unterstützen Ihre Forderung an den Bundesinnenminister, die Aufnahme von Geflüchteten, insbesondere von unbegleiteten Minderjährigen zu ermöglichen. Ein erforderlicher Beitrag, die Situation konkret zu verbessern, ist jetzt ein eigenes, großzügiges Landesaufnahmeprogramm des Landes Niedersachsen.

Auch uns ist klar, dass dieses Problem nicht allein von der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden kann. Die gesamte Europäische Union steht in der Pflicht. Aber europäische Handlungsunfähigkeit darf nicht zu Stillstand führen. Die Bundesrepublik darf sich nicht mit dem Verweis auf andere aus der humanitären Verantwortung ziehen. Nachdem die Situation in den europäischen Hotspots genauso wie die grundsätzlichen Konstruktionsfehler des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems seit Jahren bekannt sind und europäische Initiativen bisher offensichtlich unzureichend waren oder durch Mitgliedstaaten blockiert wurden, darf es nicht bei dieser Ausrede bleiben. Der Verantwortung wird die Bundesregierung mit ihrer grundsätzlichen Bereitschaft, sich an der Aufnahme von 1000 bis 1500 Kindern im Rahmen einer sogenannten „Koalition der Willigen“ zu beteiligen, nicht einmal im Ansatz gerecht.

Niedersachsen hat mit einem eigenen Landesaufnahmeprogramm bereits in der Vergangenheit humanitäre Signale gesetzt. Wir bieten Ihnen unsere Unterstützung an, wenn es darum geht, mit konkreten Maßnahmen voran zu gehen. Die Kapazitäten für Erstaufnahmen sind vorhanden. Es haben sich im Rahmen der Seebrücke-Initiative bereits 26 Kommunen in Niedersachsen bereit erklärt, sich an der Aufnahme und Unterbringung zu beteiligen.

Bundesländer haben nach §23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz die Möglichkeit, Menschen aus humanitären Gründen aufzunehmen. Wir bitten Sie deshalb nachdrücklich, Ihren Worten Taten folgen zu lassen und jetzt ein eigenes niedersächsisches Landesaufnahmeprogramm für besonders hilfs- und schutzbedürftige Menschen aus den europäischen Hotspots aufzulegen und beim Bundesinnenministerium nach §23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz einen Antrag auf Erklärung des Einvernehmens zu stellen. Laut Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, Stephan Mayer, ist ein Antrag auf ein Landesaufnahmeprogramm seitens des Bundesministeriums noch nie abgelehnt worden.

Wir dürfen nicht länger tatenlos zusehen. Setzen wir ein Signal, dass wir handeln. Wir können handeln und wir müssen handeln.

Mit freundlichen Grüßen

 

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