Für eine nachhaltige europäische Meerespolitik

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen am 04./05.05.2019 in Osterholz-Scharmbeck

Ohne gesunde Weltmeere kann die Menschheit nicht überleben: Sie regulieren das  Klima, tragen wesentlich zu unserer Nahrungsmittelversorgung bei und sie haben  eine herausragende ökologische Bedeutung. In den Meeren wird etwa die Hälfe  unseres Sauerstoffs erzeugt und rund ein Viertel unserer CO2-Emissionen  absorbiert. Die Meere und Küsten verfügen zudem über eine reiche, empfindliche  und größtenteils noch unerforschte biologische Vielfalt. Als Küstenland liegt  uns in Niedersachsen der Meeresschutz besonders am Herzen. Entsprechend der herausragenden multinationalen Bedeutung der Meere wurde  bereits 1948 die Gründung der International Maritime Organization (IMO) als  Sonderorganisation der Vereinten Nationen beschlossen, die bis heute alle  wesentlichen nicht-wirtschaftlichen Belange der Seeschifffahrt regelt. Mit dem  Ziel, bis 2020 einen guten Zustand der Meeresumwelt zu erhalten oder
wiederherzustellen, ist seit 2008 die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie der EU in  Kraft. Die Meeresanrainerstaaten sind verpflichtet, dieses Ziel in nationalen  Meeresschutzstrategien umzusetzen.

Zustand der Nordsee
Wie die von der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Nord- und Ostsee (BLANO) im  vergangenen Jahr vorgelegte Bewertung des Zustandes der Nordsee zeigt, ist  Deutschland auch bei der Umsetzung der Meeresstrategie-Richtlinie – wie bei
vielen anderen europäischen Umweltzielen – meilenweit vom vereinbarten Ziel  entfernt: Vor allem aufgrund der Schleppnetzfischerei ist der Meeresboden der  deutschen Nordsee an keiner einzigen Stelle in einem guten Zustand. Von 19 in  der Nordsee gefangenen Fisch- und Schalentierarten weisen lediglich etwa ein  Drittel gute Bestände auf; bei den anderen Arten ist die Bestandssituation entweder unzureichend oder es ist aufgrund von Datenlücken aktuell keine  Bewertung möglich. Hohe Nährstoffeinträge aus der Luft und vor allem über die
Flüsse verursachen Algenblüten – sogenannte schwarze Flecken im Wattenmeer–,  verändern die Zusammensetzung des Planktons und trüben das Wasser. Diese  Eutrophierung der Nordsee, also die unerwünschte Nährstoffanreicherung in
Gewässern, sowie die Anreicherung von Schadstoffen wie Quecksilber und Blei  führen dazu, dass auch der Wasserkörper der Nordsee weit vom Ziel eines guten  Zustandes entfernt ist. Auch Plastikmüll ist in der Nordsee ein zunehmendes Problem: So haben etwa 93  Prozent der untersuchten Eissturmvögel Plastikteile im Magen. Die Tiere können  diese Teile weder verdauen noch ausscheiden und verhungern so qualvoll bei  vollem Magen. Nicht nur für Vögel ist die Plastikflut ein wachsendes Problem:
Vor allem Mikroplastik wird von Meerestieren aufgenommen, im Organismus  angereichert und gelangt auf diese Weise auch in die menschliche Nahrung. Um das  Ziel der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie zu erreichen, muss daher auf
europäischer wie nationaler Ebene in vielen Bereichen massiv umgesteuert werden.  Die sehr differenzierten Nutzungsansprüche und die vielschichtigen Ursachen der  Problemlangen der Ozeane und insbesondere unserer Nordsee machen es  erforderlich, für eine nachhaltige Meerespolitik ganz unterschiedliche  Politikbereiche in den Blick zu nehmen.

Das Wattenmeer wirksam schützen

Das Wattenmeer ist mit rund 11.500 Quadratkilometern Europas größtes  Feuchtgebiet und die größte zusammenhängende Wattlandschaft der Welt: Bis zu  zehn Millionen Vögel halten sich hier gleichzeitig auf, tausende Seehunde  bevölkern die Sandbänke und viele Fischarten haben hier ihre Kinderstube. Der  500 Kilometer lange Küstenbereich zwischen Den Helder in den Niederlanden,  entlang der deutschen Nordseeküste bis zum dänischen Esbjerg wurde 2009 von der  UNESCO wegen seiner herausragenden ökologischen Bedeutung als Weltnaturerbe  gekürt. Der  deutsche und der dänische Teil sind als Nationalpark geschützt, in  den Niederlanden wurden staatliche Naturdenkmale ausgewiesen. Die Niederlande,  Dänemark und Deutschland arbeiten seit rund 40 Jahren in der Trilateralen  Wattenmeerzusammenarbeit gemeinsam am Schutz dieses herausragenden Lebensraums.  Die bisherige Bilanz des Naturschutzes im Wattenmeer ist jedoch bestenfalls  durchwachsen: Während sich die Bestände von Seehunden und Schweinswalen positiv  entwickelt haben, gehen die Bestände zahlreicher Brut- und Rastvogelarten zum  Teil deutlich zurück. Die Fischerei ist weiterhin wenig naturverträglich und vor  allem im Bereich der Flussmündungen führen die aufgrund ständiger  Flussvertiefungen immer größer werdenden Umschichtungen von Sand und Schlick zu  massiven Umweltproblemen. Die größte Bedrohung stellt jedoch der Klimawandel und  der damit einhergehende Anstieg des Meeresspiegels dar.
Um den Schutz dieses einzigartigen Lebensraumes zu verbessern, fordern wir:
• auf weitere Vertiefungen von Elbe, Weser und Ems zu verzichten (siehe unten) und die Flüsse durchlässig zu gestalten, damit Fische zwischen dem Wattenmeer und ihren flussaufwärts gelegenen Lebensräumen hin- und  herwandern können.

• zwischen den drei Staaten der Trilateralen Wattenmeerzusammenarbeit eine  koordinierte Strategie zum Sedimentmanagement zu entwickeln, um die Beeinträchtigungen der Unterwasserwelt des Wattenmeeres durch Baggerungen  und Verklappungen von Sand und Schlick wirksam zu begrenzen.

• zur Sicherung des Bruterfolgs von Vögeln das Einschleppen von Prädatoren  auf den Inseln zu verhindern und den Verlust ehemals sandiger Lebensräume  zu stoppen und umzukehren. Prädatoren oder auch Beutegreifer sind  Tierarten, die ihre Beute töten.

• die Schadstoffeinträge in das Wattenmeer deutlich zu verringern (siehe unten)

• den Naturschutz bei touristischen Aktivitäten mit erheblichen Auswirkungen  auf die Natur stärker zu berücksichtigen.

• keine Erdöl- und Erdgasförderung im oder unterhalb des Wattenmeeres  zuzulassen.

• den Klimaschutz auch zum Schutz des Wattenmeeres wirksam voranzutreiben  und Klimaanpassungsmaßnahmen etwa beim Küstenschutz möglichst im Einklang mit den Belangen des Naturschutzes umzusetzen.

Schadstoffeinträge minimieren

In der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie haben sich die Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union 2008 verpflichtet, die Schadstoffeinträge in die Meere drastisch zu verringern. Während die Einträge von Schwermetallen seither um bis  zu 75 Prozent zurückgegangen sind, sind die Einträge von Phosphat und Stickstoff  auf dem Luftpfad vor allem aber über einmündende Fließgewässer unvermindert  hoch. Darüber hinaus wird der Eintrag von Makro- und Mikroplastik auch in derNordsee zu einem wachsenden Problem.
Deshalb wollen wir:
• die Einträge von Stickstoff und Phosphat, die überwiegend landwirtschaftlichen Ursprungs sind, durch eine ambitionierte Agrarwende  verringern. Hierzu gehören unter anderem: die EU-Agrarförderung massiv  verändern, die Düngeverordnung weiter verschärfen, die Tierbestände in den Massentierhaltungsregionen verringern und ausreichende, jedoch mindestens  fünf Meter breite Gewässerrandstreifen umsetzen.

• dass die EU-Kommission und die Nordseeanrainerländer die für 2021 von der  IMO beschlossenen Ausweisung von Nord- und Ostsee als Stickstoffemissionskontrollgebiet konsequent durchsetzen, um die Stickstoffeinträge auch aus der Schifffahrt zu reduzieren.

• durch eine EU-weite Plastiksteuer und die konsequente Umsetzung des von der EU-Kommission für 2021 vorgesehenen Verbots von Einweg-Plastik den Plastikmüll in die Nordsee verringern.

• „fishing for litter“ transnational ausbauen: Bei dem von der rot-grünen Landesregierung in Zusammenarbeit mit dem NABU auf den Weg gebrachte Programm „fishing for litter“wird der als „Beifang“ in Fischernetzen eingesammelte Plastikmüll umweltgerecht entsorgt ().

• den Einsatz von Mikroplastik in Kosmetika EU-weit verbieten.

• die Müll- und Abwassergebühren für Schiffe in den Häfen pauschalieren, um so Anreize für die illegale Entsorgung auf See zu vermeiden.

Für eine nachhaltige Fischerei
Fünf Prozent des weltweiten Fischfangs stammen aus der Nordsee, die ihrerseits  nur 0,2 Prozent der Weltmeere ausmacht. Über die Hälfte der in der Nordsee gefangenen Fische landet als Fischmehl in den Trögen unserer Schweine und Hühner. Die Bestände von Seezunge, Schellfisch, Kabeljau und Wittling sind in der Nordsee definitiv überfischt, für sieben weitere kommerziell befischte Arten liegen keine ausreichenden Daten vor. Nach der 2013 von EU-Kommission, EU-Parlament und Ministerrat verabschiedeten Reform der gemeinsamen EU-Fischereipolitik hat sich die Situation zwar entspannt, vom Ziel der Nachhaltigkeit ist die Fischerei dennoch ein gutes Stück entfernt. Es ist daher erforderlich, dass:

• Fangquoten bzw. Fangbeschränkungen bis hin zu kompletten Fangverboten von  der EU-Kommission auschließlich anhand wissenschaftlicher Empfehlungen und  nicht politisch festgesetzt werden.

• die Kontrolldichte deutlich erhöht wird, um sicherzustellen, dass die seit  2013 geltende Verpflichtung, auch den sogenannten Beifang nicht  erwünschter Fischarten mit anzulanden und auf die Fangquote anrechnen zu  lassen, tatsächlich umgesetzt wird. Dabei ist auch geeignete Überwachung an Bord der Schiffe und eine deutliche Erhöhung der bisher geringen Sanktionen bei Verstößen zu prüfen.

• dauerhaft oder zeitweise fischereifreie Zonen eingeführt werden – in Abhängigkeit der regionalen Bedeutung der Gebiete für den Bestandserhalt  und die Meeresumwelt. Das gilt insbesondere für die Natura-2000-Gebiete in  der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), die das Meeresgebiet jenseits des Küstenmeeres bezeichnet.

• der Einsatz von Grundschleppnetzen und Stellnetzen in Natura-2000-Gebieten vollständig unterbleibt, um den Meeresboden, Seevögel und Schweinswale wirksam zu schützen.

• die Erforschung alternativer Fangmethoden vorangetrieben wird, die den Meeresboden schützen und unerwünschten Beifang wirksam verringern.

Wir halten es außerdem für angebracht, die nationalstaatlichen Kompetenzen im Bereich der Hochseefischerei auf die Europäische Union zu übertragen. Die maritime Wirtschaft weiterentwickeln Mit etwa 400.000 Beschäftigten und einem Umsatzvolumen von rund 50 Milliarden Euro zählt die maritime Verbundwirtschaft zu den wichtigsten und innovativen Wirtschaftszweigen in Deutschland. Die Deutsche Bucht gehört mit jährlich rund 150.000 Schiffsbewegungen zu den weltweit bedeutendsten Schifffahrtsrouten. Die Havarie des Containerschiffs MS Zoe Ende vergangenen Jahres, bei der unter anderem mit Gefahrgut beladene Container über Bord gingen, zeigt die Risiken für Mensch und Umwelt. Außerdem belegen regelmäßige Verölungen von Stränden und Meeresvögeln, dass immer noch erhebliche Ölmengen illegal auf See beseitigt werden.
Um die maritime Wirtschaft nachhaltig zu entwickeln, fordern wir:

• die unproduktiven Konkurrenzen zwischen den europäischen Seehäfen der Nordrange (Antwerpen, Rotterdam, Bremen, Hamburg, Wilhelmshaven) müssen endlich durch Kooperation überwunden und transeuropäische Netze für den Schiffsverkehr etabliert werden. Dadurch können unter anderem die geplanten, immer weiteren Vertiefungen von Elbe und Weser vermieden werden. Zudem können durch europaweit optimierte seegestützte Transportketten Umweltbelastungen vermindert werden. Dabei ist es unerlässlich, die Digitalisierung des Schiffsverkehrs inklusiv der dafür zuständigen Behörden weiter voranzutreiben.

• dass sich die EU, Bund und Länder für verbindliche Schadstoffobergrenzen unter anderem für Schwefeldioxid, CO2, Stickoxide und Feinstaub in der Seeschifffahrt durch die IMO einsetzen.
• den Einsatz besonders umweltfreundlicher Schiffstechnologie unter anderem durch eine Entlastung bei den Hafengebühren und das kontinuierliche Weiterentwickeln des von der rot-grünen Landesregierung 2015 an den Standorten Elsfleth und Leer aufgebauten Kompetenzzentrums Green Shipping voranzutreiben. in allen geeigneten niedersächsischen Häfen eine Landstromanlage zu installieren, um die Schiffe in den Häfen mit ökologisch erzeugtem Strom statt mit Energie aus schiffseigenen Diesel- Generatoren zu versorgen.
• den Ausbau der Offshore-Windenergie im Einklang mit den Belangen des Naturschutzes weiter voranzutreiben und die zusätzliche Nutzung der Offshore-Windparks durch eine nachhaltige Aquakultur auf den Weg zu bringen.
• die EU-Zuständigkeiten auszubauen bei der Koordination von Kontrolle und Überwachung des Schiffsverkehrs und beim Bündeln der nationalen Vollzugsaufgaben in einer Nationalen Küstenwache. Zudem muss die Notfallvorsorge gemeinsam mit den Nordseeanrainern koordiniert werden: Hierzu gehören unter anderem ausreichende Kapazitäten der jederzeit verfügbaren Notschlepper und das Vorbeugen gegen Ölverschmutzung. Die Errichtung von LNG-Terminals, die der Anlandung von (Fracking-)Gas dienen, überwiegend aus den USA, lehnen wir ab. Der Import neuer fossiler Brennstoffe widerspricht den Zielen der europäischen Energiewende und des Klimaschutzes. Raumnutzung abstimmen Die Nutzungsansprüche an die Nordsee sind vielfältig: Wirtschaftliche Nutzungen wie Schifffahrt, Fischerei, Tourismus, Rohstoff- und Energiegewinnung konkurrieren zunehmend mit den Belangen des Naturschutzes.
Wir fordern daher:
• europaweit Vorgaben für eine verbindliche Steuerung unterschiedlicher Raumnutzungen durch eine marine Raumplanung in der Nordsee analog der Raumordnungsplanung an Land zu entwickeln.
• mindestens die Hälfte der Meeresschutzgebiete in der Nordsee von jeglicher Nutzung (Fischerei, Rohstoffgewinnung, Offshore-Windkraft) freizuhalten. Eine nachhaltige und integrierte Meerespolitik kann nur erfolgreich sein, wenn die Standards auf der Ebene der Europäische Union definiert werden und die Mitgliedsstaaten diese entsprechend ihrer geografischen Zugehörigkeiten umsetzen und ergänzen. Dafür stehen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN.

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen am 04./05.05.2019 in Osterholz-Scharmbeck