Demokratie braucht eine aktive und politische Zivilgesellschaft

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen am 04./05.05.2019 in Osterholz-Scharmbeck

Eine lebendige Zivilgesellschaft ist zentraler Bestandteil einer pluralistischen Demokratie. Sie organisiert demokratische Beteiligungsprozesse, ist unverzichtbarer Teil der Willens- und Meinungsbildung, vertritt Interessen von Menschen und Gruppen, die sonst kaum gehört werden und wirkt gegen egoistische Lobbyinteressen. Unsere Demokratie braucht eine kritische und eine politische Zivilgesellschaft, die protestiert und sich einmischt.

Niedersachsen lebt von seiner aktiven Zivilgesellschaft, dem zivilen Ungehorsam und kreativen Protest. Vor 40 Jahren kamen beim Gorleben-Treck hunderte Trecker und 100.000 Menschen nach Hannover, um gegen die tödlichen Gefahren der Atomenergie zu demonstrieren. Heute streiken und demonstrieren weltweit hunderttausende Schüler*innen während der Schulzeit für den Klimaschutz und die Zukunft ihrer Generation.

Viele Menschen und Organisationen mischen sich politisch in Niedersachsen ein. Seien es die Bürger*innen-Initiativen gegen Fracking und gegen Massentierhaltung, Geflüchteten-Initiativen, die sich für Seenotrettung und sichere Häfen einsetzen, Aktivist*innen, die für ein freies Internet, gegen Uploadfilter, und eine gerechte Vergütung von Urheber*innen streiten, Organisationen für Abrüstung oder soziale Bewegungen für das Recht auf Stadt und günstige Mieten: Sie alle bringen wichtige Themen auf die Agenda und verdienen unsere Unterstützung.

Doch die Zivilgesellschaft steht unter Druck, überall auf der Welt. Global nehmen die sogenannten „shrinking spaces“ zu. Teilweise reden zivilgesellschaftliche Organisationen sogar von „closing spaces“. Beide Begriffe beschreiben die Tendenz, dass in mehr und mehr Staaten auf der Erde die zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräume immer stärker eingeschränkt werden. Das betrifft weitgehende Beschränkungenbeider Finanzierung, Einschränkungen des Versammlungsrechts und der Meinungsfreiheit, die Kriminalisierung zivilgesellschaftlichen Engagements oder gar das Verbot von Organisationen. Das ist nicht nur ein Problem in Staaten mit autoritären Regimen wie in Russland oder in Ägypten. Auch in Demokratien wie in den USA, Österreich, Polen, Ungarn und Brasilien attackieren die autoritären, nationalistischen Regierungen die Zivilgesellschaft. Und ebenfalls in der Europäischen Union nehmen die „shrinking spaces“ zu. In Polen wurden das Verfassungsgericht und kritische Medien europarechtswidrig mundtot gemacht. In Österreich greift die Regierungspartei FPÖ den öffentlichen Rundfunk an und droht mit Zerschlagung. In Ungarn führt Viktor Orbán, mit seiner Partei Fidesz immer noch Mitglied der Europäischen Volkspartei und somit Schwesterpartei von CDU und CSU, seit Jahren antisemitische und rassistische Kampagnen gegen Universitäten, Europäische Union und Zivilgesellschaft. Erst kürzlich wurde ein Anti-NGO-Gesetz und ein Gesetz gegen die Presse- und Medienvielfalt beschlossen. Europaweit greifen rechtsradikale Bewegungen, aber auch konservative Parteien die Zivilgesellschaft an. Besonders unter Druck stehen Initiativen für Seenotrettung und Geflüchtete, z.B. in Italien. In Italien wird die Rettung von Ertrinkenden kriminalisiert, viele Schiffe wurden beschlagnahmt und viele Retter stehen vor Gericht. Menschen, die auf dem Mittelmeer Leben retten, sind die Held*innen unserer Zeit. Sie verdienen unseren großen Dank statt Kriminalisierung. Denn es ist eigentlich
die Aufgabe der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten, das internationale Recht der Seenotrettung einzuhalten und nicht Menschen im Mittelmeer elendig ertrinken zu lassen. In Europa werden gerade Menschen kriminalisiert, die Menschen vor dem Tod retten. Den Seenotretter*innen drohen lange Haftstrafen, ihre Schiffe dürfen nicht anlegen oder sie müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Das ist eine Schande für die Menschenrechte in Europa.

Auch in Deutschland stehen zivilgesellschaftliche Organisationen insbesondere Umwelt-, Tierschutz- und Menschenrechtsorganisationen unter Druck. Die anerkannte Umweltorganisation Deutsche Umwelthilfe wird von den Regierungsparteien CDU und CSU massiv angegriffen und mit Dreck beworfen, weil sie nicht anderes tut, als vor Gericht geltendes Recht zum Schutz der Gesundheit der Bürger*innendurchzusetzen. Auch die Bundeskanzlerin hat die Umwelthilfe im Bundestag attackiert. Die Deutsche Umwelthilfe hat für ihre Arbeit und Durchsetzung geltender Gesetze großen Dank verdient und keine Einschüchterung durch die Union. Die Deutsche Umwelthilfe ist als Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation gemeinnützig und das wird regelmäßig durch das zuständige Finanzamt bestätigt. Es ist daher inakzeptabel, dass ein Verein, der gegen Rechtsbrüche vorgeht, von der Kanzlerin und der CDU attackiert wird und nicht die kriminelle Autoindustrie, die hemmungslos gelogen und betrogen hat. Hier soll der Aufklärer an den Pranger gestellt werden, während die Täter einfach so weiter machen. Das ist eine verkehrte Welt. Angela Merkel sollte aufhören mit den Autokonzernen zu klüngeln und endlich dafür sorgen, dass geltendes EU-Recht zum Schutz der Umwelt und Gesundheit eingehalten wird.

Auch in Niedersachsen fordern die CDU und das Agrarministerium Tierschutzorganisationen, die etwa illegale Tierquälereien in Schlachthöfen und Ställen aufdecken, die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Dabei wären ohne das Engagement von engagierten Tierschützer*innen viele Skandale der Fleischindustrie unentdeckt geblieben.

Auch Gewerkschaften und kritische Journalist*innen, die etwa großen Steuerbetrug wie bei Cum-Ex oder Ausbeutung von Werksvertragsarbeitern aufdecken, geraten unter rechtlichen Druck.

Jetzt schon ermittelt etwa die Hamburger Staatsanwaltschaft aufgrund von Anzeigen aus der Schweiz gegen den Chefredakteur des Recherchenetzwerks „Correctiv“ wegen Recherchen zum Steuerbetrug mit Cum-Ex-Geschäften. Gegen den Journalisten wird wegen Anstiftung zum Verrat von Geschäftsgeheimnissen nach § 17 des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb ermittelt. Durch den aufgedeckten Cum-Ex-Skandal soll europaweit ein Steuerbetrug von mehr als 55 Milliarden Euro entstanden sein. Nun werden die Whistleblower in der Wirtschaft und Journalist*innen statt die kriminellen Banken strafrechtlich verfolgt. Umso erfreulicher, dass die Grüne Europafraktion eine Richtlinie zum besseren Schutz von Whistleblowern durchgesetzt hat, welche noch national umgesetzt werden muss.

Neben den genannten strafrechtlichen Ermittlungen gibt es neuerdings auch neue Auslegungen des Gemeinnützigkeitsrechts mit gravierenden Folgen für die Zivilgesellschaft.

Nachdem der Bundesfinanzhof vor kurzem die Entscheidung des Finanzamtes Frankfurt bestätigt hat, Attac die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, sind viele zivilgesellschaftliche oRANISATIONEN VERUNSICHERT:

Insbesondere tagespolitische Äußerungen hatte der Bundesfinanzhof kritisiert. Campact stellt als Reaktion deswegen keine Spendenquittungen mehr aus. Viele Organisationen fragen sich gerade, inwiefern sie sich noch zu politischen Fragenmjenseits ihres Gemeinnützigkeitszweckes äußern und betätigen dürfen. Dürfen Sportvereine sich weiterhin klar gegen Rechtsextremismus positionieren? Dürfen Umweltvereine zu einer lokalen Demo für Seenotrettung aufrufen? Diese Fragen beschäftigen und verunsichern zur Zeit sehr viele Menschen in der Zivilgesellschaft. Absurd. Zivilgesellschaft ist politisch und soll sich politisch einmischen. Gleichzeitig ist die Lobby der Reichen, die Stiftung Familienunternehmen und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft oder die
Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik weiterhin gemeinnützig. Das ist inakzeptabel.

Weitere Organisationen stehen im Fadenkreuz. Flüchtlingsräte, aber auch Anwält*innen und Journalist*innen, machen sich nach dem Willen von Horst Seehofer in Zukunft strafbar, wenn sie über bevorstehende Abschiebungen informieren. Wenn die Tätigkeit von Berater*innen und Rechtsanwält*innen kriminalisiert wird, ist Rechtsschutz unmöglich. Dabei sind diese gerade auch mit Blick auf den einhergehenden Abbau der Rechtsschutzmöglichkeiten für Asylsuchende wichtige Anlaufstellen, um die Rechte der Betroffenen zu gewährleisten. Doch damit nicht genug: Mit dem geplanten Geordnete-Rückkehr-Gesetz – wir nennen es „Menschen-ohne-Rechte-Gesetz“ – soll ermöglicht werden, Menschen vor der Abschiebung noch leichter und noch länger inhaftieren zu können. So sollen unter anderem Wohnungsdurchsuchungen – auch ohne richterliche Anordnung – erlaubt sein, das Trennungsgebot von Strafhaft und Abschiebungshaft ausgesetzt und die Haftvoraussetzungen gesenkt werden. Effektiver Rechtschutz wird maximal beschnitten und ist nicht mehr gewährleistet. Diese Kriminalisierung der Zivilgesellschaft erinnert an die Praxis der Orbáns oder Salvinis, der neuen Rechten, in Europa.

Gleichzeitig hat ein AfD-naher Staatsanwalt in Thüringen aus rechter Gesinnung ein Ermittlungsverfahren gegen die Aktionskunstgruppe Zentrum für Politische Schönheit wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet, da sich die Gruppe mit einer Aktion gegen den völkischen AfD-Politiker Bernd Höcke gewandt hat. Das Verfahren ist inzwischen zum Glück eingestellt worden. Eltern in Bayern wird mit Bußgeld gedroht, weil ihre Kinder ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen und freitags nicht zur Schule, sondern für den Schutz unserer Lebensgrundlagen auf die Straße gehen. Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus werden politisch von der rechtsradikalen AfD attackiert. Daher ist es ein verheerendes Signal, dass die niedersächsische Landesregierung die Gelder für Präventionsarbeit für Demokratie und gegen Rechtsextremismus kürzt.

In Bayern gilt ein neues Polizeigesetz, dass die Bürger*innenrechte deutlich einschränkt und zusammen mit einem restriktiven Versammlungsrecjht zivilgesellschaftliches Engagement erschwert. In der letzten Wahlperiode wurde auf Bundesebene – unter dem Deckmantel Einsatzkräfte zu schützen – eine Strafrechtsverschärfung mit dem §114 StGB beschlossen, die vor allem bei Aktionen zivilen Ungehorsams die Gefahr birgt, demokratisches Engagement zu kriminalisieren und das Versammlungsrecht einzuschränken. Weitere Polizeigesetze nach bayrischem Vorbild sind auf dem Weg. So auch in Niedersachsen.

Das neue geplante Polizeigesetz in Niedersachsen wirkt zusammen mit geplanten Verschärfungen des Versammlungsgesetzes bei Demonstrationen und anderen Anlässen auch auf die Zivilgesellschaft.

In der rot-grünen Landesregierung haben wir den Straftatbestand der Vermummung auf eine Ordnungswidrigkeit herabgesetzt und die Bannmeile vor dem Landtag abgeschafft. Die Große Koalition will auf Druck der CDU Vermummung nun wieder als Straftat einstufen und setzt damit auf unnötige Eskalation. Zahlreiche weitere Einschränkungen von Bürger- und Freiheitsrechten sind mit dem neuen Polizeigesetz von Innenminister Pistorius geplant. Doch auch ohne neues Polizeigesetz ist die Zivilgesellschaft in Niedersachsen unter Druck. Bestes Beispiel ist die Demonstration gegen das Polizeigesetz. Wenn Anmelder*innen von Demonstrationen damit rechnen müssen am Ende auf einer saftigen Rechnung für die Straßenreinigung sitzen zu bleiben, finden sich bald nur noch wenige Anmelder*innen. Diese Praxis ist geradezu absurd. Das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit darf nicht vom Geldbeutel abhängig sein.

Für uns GRÜNE in Niedersachsen ist klar: Ohne die neuen sozialen Bewegungen und die großen Proteste hätte es die GRÜNEN nie gegeben.Wir stehen weiterhin als Bündnispartei an der Seite der Zivilgesellschaft und streiten gemeinsam für eine gerechte, ökologische und bunte Gesellschaft. Die Demokratie lebt von den Menschen, die politische Prozesse und das Alltagsgeschehen kritisch begleiten. Eine aktive Zivilgesellschaft macht Druck von unten, sie widersetzt sich finanzstarken Lobbys und großen Konzernen. All das, was nachweislich weder die niedersächsische Landesregierung noch die Bundesregierung schaffen. Ohne Zivilgesellschaft kein Atomausstieg. Ohne Zivilgesellschaft keine saubere Luft in den Städten. Ohne Zivilgesellschaft keine Seenotrettung im Mittelmeer. Ohne Zivilgesellschaft keine Agrarwende. Ohne Zivilgesellschaft keine Aufklärung des Cum-Ex-Skandals.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen fordern daher:

  • Eine stärkere finanzielle und verlässliche Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen
  • Rücknahme des Gesetzesentwurfs für ein neues Polizeigesetz in Niedersachsen, damit das Versammlungsrecht und die Bürgerrechte nicht
    eingeschränkt werden #npog
  • Eine Änderung der Abgabenordnung auf Bundesebene, die klarstellt, dass eine Teilnahme an der politischen Willensbildung unschädlich für die Gemeinnützigkeit ist und weitere Zwecke mitaufnimmt, z.B. Förderung der Wahrnehmung und Verwirklichung von Grundrechten, Frieden, soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, informationelle Selbstbestimmung, gleichberechtigte Teilhabe an der digitalen Gesellschaft, Menschenrechte, Gleichstellung der Geschlechter, Rechte von Homo-, Bi-, Trans- und Intersexuellen und Medienvielfalt
  • Ein Gesetz zum umfassenden Whistleblowerschutz in Wirtschaft, Verwaltung, Gesellschaft und Medien, damit nicht diejenigen im Gefängnis landen, die Betrüger*innen auffliegen lassen
  • Schutz und Freiheit der Recherche und Berichterstattung von Journalist*innen gegenüber Staat und Wirtschaft mit offensivem Quellenschutz
  • Keine Kriminalisierung von Geflüchteten, Geduldeten und Helfer*innen, weder im Mittelmeer bei der Seenotrettung noch in Deutschland bei Abschiebungen. Die ständigen Verschärfungen im Asylrecht müssen ein Ende haben, denn der Schutz von Menschenrechten ist nicht verhandelbar sondern zentral für unsere Demokratie
  • Mehr Mitbestimmungsrechte für Schüler*innenvertretungen, demokratische Schulen, Absenkung des Wahlalters und ein allgemeinpolitisches Mandat für Schüler*innenvertretungen und Studierendenvertretungen, denn echte Demokratie lässt sich am besten selbst erfahren und erlernen

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen am 04./05.05.2019 in Osterholz-Scharmbeck